September 2024 | G/Geschichte – Karl Mays letzte große Reise führt ihn in die USA. Der geistige Vater von Winnetou wird nicht durch das wilde Land der Apachen reiten. Stattdessen bereist er nur den gezähmten Osten des Landes.

Aus einer Art Zelt, die Wände aus Baumrinde, lugt ein älterer Europäer in Sakko und Weste. Neben ihm ein zweiter Mann, dieser in weißem Hemd, mit Hosenträgern und Hut, dazu zwei Kinder. Die auf den ersten Blick unscheinbare Schwarz-Weiß-Aufnahme, entstanden im Herbst 1908 im Westen des US-Bundesstaates New York, ist eine Sensation. Sie ist die einzige, die Karl May zusammen mit Indianern zeigt. Doch obwohl Amerika Mays „Sehnsuchtsland“ ist, wie der May-Biograf Thomas Kramer schreibt, scheint sich der Schriftsteller auf dem Foto fast verstecken zu wollen.

Vielleicht weil der 66-Jährige ahnt, dass der Moment, den seine zweite Ehefrau Klara für die Ewigkeit fest- gehalten hat, mitten hinein führt in die Widersprüche seines Lebens. Da ist der Autor, der den Menschen in Deutschland den Wilden Westen nähergebracht hat als irgendjemand sonst, ohne je vor Ort gewesen zu sein. Da ist ein Mann, der so gerne selbst Old Shatterhand wäre, aber eben doch nur Karl May ist. Und da ist Mays Idealbild des freien Indianerlebens, das nun einem brutalen Realitätscheck unterzogen wird. (…)

Erschienen in G/Geschichte Porträt, Herbst 2024: Karl May.