Juli 2023 | fluter – … denn in Taiwan erobern junge Indigene ihre traditionellen Sprachen, Namen und Rituale zurück – nach mehr als hundert Jahren staatlicher Unterdrückung.

Das Schwein, klein und mit pechschwarzen Borsten, liegt schlummernd in einem großen Metallkäfig im Inneren eines Cafés. Es ahnt nicht, dass es nur noch eine gute Stunde zu leben hat. Es erkennt auch nicht das klirrende Geräusch des Wetzsteins, an dem Ciang Ispalidav sein Messer schleift. Mit der Fingerkuppe prüft er, ob es scharf genug ist. Ein leicht metallischer Geruch liegt in der Luft.

Ciang Ispalidav ist einer von gut 30 jungen Menschen, die sich an diesem Sonntagmorgen im Dezember 2022 noch vor Sonnenaufgang im Café Lumaq im Herzen von Taiwans Hauptstadt Taipeh versammelt haben. Sie wollen heute das Café eröffnen. Die meisten Anwesenden zählen sich zu den indigenen Ureinwohnern Taiwans, deshalb wollen sie bei der Eröffnung traditionellen Bräuchen folgen. Deswegen ist das Schwein hier: Vor Beginn der Feier muss es geschlachtet und zubereitet werden – und zwar direkt vor Ort. Das ist eine Premiere in Taipeh. Nie zuvor haben Indigene die Zeremonie mitten in der Millionenstadt durchgeführt. Jedenfalls nicht offiziell. (…)

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